Ein Brief erzählt (Social philately Artikel von Dr. Hans-Ulrich Stauffer, SPhV Basel)

by Adrian Schaub
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Wer erinnert sich an das geflügelte Wort „Eine ungestempelte Briefmarke schweigt, eine gestempelte flüstert, ein Brief erzählt“. Wie wahr – eine postfrische Briefmarke hat ein Motiv, das sich meistens, wenn auch nicht immer dem Betrachter erschliesst. Drucktechnische Angaben werden von der ausgebenden Post geliefert oder sind einem Katalog zu entnehmen. Bei einem gestempelten Exemplar können vielleicht noch Aufgabeort und -datum erkannt werden. Ein Brief hingegen hat einen Adressaten, vielfach auch einen Absender, vielleicht auch noch postalische Zusatzangaben wie Einschreibe- oder Expressetikette. Bei älteren Briefen sind Leitvermerke, Durchgangsstempel, Ankunftsstempel, handschriftliche Vermerke gerne gesehene Zusatzinformationen. Sie geben uns Informationen, die uns Zugang zu einer verborgenen Welt eines gelaufenen Belegs geben und eine philatelistische Beschreibung ermöglichen.

Doch das ist nicht alles. Hinter einem solchen Beleg kann sich auch eine weitere, bei bloss oberflächlicher Betrachtung nicht erkennbare spannende Geschichte verbergen. Wer hat einen Brief wem geschickt? Können aus den Angaben zum Absender und dem Adressaten zusätzliche Informationen gewonnen werden? Wohl in den wenigsten Fällen ist der Briefinhalt bekannt, und wenn doch, verbirgt sich vielleicht in ihm eine spannende Geschichte? Mit diesen Fragen wird das engere Feld der Philatelie verlassen. Kann ein Brief in einen geschichtlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt werden, bewegen wir uns in der „Social Philately“. Auf Deutsch liesse sich dies vielleicht mit der „Philatelie der Sozialgeschichte“ umschreiben, oder viel kürzer und einprägsamer mit „Geschichte hinter Belegen“.

Wohl in jeder Sammlung schlummern Belege, die mehr als Informationen über eine blosse Beförderung aufweisen. Allerdings gilt es, diese Belege zu entdecken und die mit ihnen verbundene Geschichte herauszufinden. Das ist oft eine mühsame Recherche. Doch heutzutage bietet das Internet mit seinen nahezu unendlichen Informationen eine ideale Möglichkeit, diese Recherche vorzunehmen. Ist einmal eine Spur gefunden, ergeben sich bald neue Ansätze, neue Informationen tauchen auf und mit der Zeit fügt sich alles zu einem stimmigen Bild. Vielleicht geht die eine oder andere Information zu weit, aber das muss in der Philatelie der Sozialgeschichte Platz haben.

In der Folge werden aus der Sammlung des Verfassers zum Thema Thurn und Taxis einzelne Belege in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Aufgebaut wird die Darstellung mit einer philatelistischen Beschreibung des Belegs, der sich dann die Ausführungen über den gesellschaftlichen, geschichtlichen oder wirtschaftlichen Hintergrund anschliessen. Weitere Dokumente können das Thema abrunden. Zugegeben: es war nicht immer einfach, nicht noch weitere, spannende Anekdoten und Geschichten anzufügen.

Folge 1: Ein Brief nach Guernsey an eine illustere Empfängerin

Philatelistisch lässt sich dieser Brief folgendermassen beschreiben.

Der Brief wurde 1865 von Jena, Grossherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, auf die unter britischer Hoheit stehende Kanalinsel Guernsey versandt.

Frankatur: 2 und 5 Silbergroschen der 2. Ausgabe Thurn und Taxis für den nördlichen Postbezirk (1859-1862). Zweizeiliger Aufgabestempel „Jena, 28. Oct. 1859“; nach Stempelhandbuch Haferkamp/Probst handelt es sich um den von 1852-1869 verwendeten Stempel Typ. 1. Die beiden Marken sind entwertet mit dem Jena zugeordneten Nummernstempel „234“ (Typ 1). Handschriftlich ist der Vermerk „4“ angebracht worden, was die Höhe des ausländischen Portos angibt. Der rote Stempel „P“ stammt von der britischen Post und gibt an, dass das Porto bis zum Empfänger bezahlt worden ist. Der Brief wurde über London auf die Kanalinseln geleitet, was sich aus dem roten Transitstempel „London, 31.10.1858“ ergibt.

Rückseitig ist aufgrund der erfolgten Beförderung per Bahnpost der Stempel „Eisenach-Halle, 29.10.“ der Thüringischen Eisenbahn angebracht sowie der Ankunftsstempel „Guernsey (Datum nicht lesbar) 59“.  

Das Porto von 7 Silbergroschen setzt sich zusammen aus einem Portoanteil von 3 Sgr. Porto im Deutsch-Österreichischen Postverein für eine Grenzentfernung von über 20 Meilen und 4 Sgr. fremdes Porto.

Der Brief ist von Sem geprüft worden. Im Attest wird festgehalten: „Briefe auf die Kanalinseln sind bemerkenswert und selten“.

Sozialgeschichtliche Erkenntnisse

Der Brief ist an Madame Drouet, Hauteville Street, La Fallue, Guernsey, adressiert. Wer in abgesandt hat, ist nicht ersichtlich. Auch kennen wir den Briefinhalt nicht. Es liegt und nur der äussere, zum Briefumschlag gefaltete Briefbogen vor, auf dem keine Mitteilungen angebracht worden sind.

Victor Hugo und Juliette Drouet. Quelle: CLEM Patrimoine ; Rue des Archives (mit freundlicher Genehmigung)

Bei der Empfängerin handelt es sich um Juliette Drouet, die 1806 als Juliette Gauvin zur Welt kam. Die Mutter starb kurz nach der Geburt, der Vater ein Jahr später. Juliette wurde vorerst in ein Waisenhaus gebracht und wuchs später bei ihrem Onkel René-Henry Drouet in Paris auf. In jungen Jahren lernte sie den Bildhauer James Pradier kennen, dem sie Modell stand für eine von ihm geschaffene Statue, welche Strasbourg symbolisiert und auf dem Place de la Concorde in Paris stand. Mit Pradier hatte sie eine Tochter, Claire. Pradier ermunterte Drouet, eine Ausbildung zur Schauspielerin zu beginnen. Ab 1826 besuchte sie die Schauspielschule am Théatre du Parc in Brüssel, später Paris. Hier nahm sie den Familiennamen ihres Onkels, Drouet, an. Eine allzu grosse schauspielerische Begabung wurde ihr nicht attestiert, jedoch eine umso grössere Schönheit.

Doch was hat das alles mit Guernsey zu tun? Datum und Ort der für Juliette Drouet schicksalshaften Begegnung sind bekannt: Am 7. Januar 1833 wird Victor Hugo anlässlich einer Theateraufführung seines Dramas Lucrèce Borgia, in welcher Drouet die Rolle der Prinzessin Négroni spielt, auf die junge Schauspielerin aufmerksam. Das Theaterstück sollte Jahre später als Oper durch die Bearbeitung von Gaetano Donizetti als Lucrezia Borgia Weltruhm erlangen.

Victor Hugo, selbst verheiratet und Vater von vier Kindern, bindet mit Wissen seiner Ehefrau Drouet als Muse, Geliebte und Lektorin an sich. Er verspricht ihr, ihre Schulden zu begleichen und ihr fortan den Lebensunterhalt zu finanzieren. Drouet beendet ihre schauspielerische Tätigkeit und lebt von nun an an der Seite von Victor Hugo.

Hugo genoss anfänglich die Unterstützung des französischen Königs Louis-Philippe, der ihn 1845 zum Vicomte und Paire machte und damit zum Mitglied des Oberhauses. Die Februarrevolution von 1848 begrüsste er anfänglich, bewegte sich jedoch dann zu den Konservativen hin. Zum Bruch mit Louis-Philippe kam es, als sich dieser am 2. Dezember 1851 durch einen Staatsstreich zum Kaiser auf Lebzeiten proklamieren liess und sich fortan Napoléon III. nannte. Hugo wurde kurzzeitig verhaftet und dann aus Frankreich verwiesen.

Victor Hugo auf dem Balkon des Hauteville House (1878); Photographie d’André, Paris Quelle: commons.wikimedia.

Er – und mit ihm Juliette Drouet – fanden eine erste Bleibe auf der britischen Kanalinsel Jersey. 1856 erwarb Hugo die Liegenschaft Hauteville House auf Guernsey. Nach der Gesetzgebung von Guernsey war er damit als Grundbesitzer vor einer Ausweisung geschützt. Von seinem Exil auf den Kanalinseln aus verspottete Hugo Kaiser Napoléon III. als „Napoléon le Petit“ – Napoleon der Kleine -, dies natürlich mit Bezug auf den grossen Napoléon Bonaparte.

Hauteville House heute. Quelle: commons.wikimedia.

Im Hauteville House vollendete Hugo seinen Roman „Les Misérables“, in dem am Schicksal des geflohenen Galeerenhäftlings Jean Valjean das Elend der verarmten Arbeiterbevölkerung in Paris thematisiert wird. Nebst anderen Büchern verfasste Hugo auf Guernsey auch „Les travailleurs de la mer“ (Die Arbeiter des Meeres), einen Roman, in dem das harte Leben der Küstenfischer Guernsey geschildert wird.

1870 kehrten Hugo und Drouet nach dem Ende des Second Empire, der Kaiserherrschaft Napoléons III., nach Paris zurück. Hugo gerät in die dramatischen Monate er Belagerung und Bombardierung von Paris. Hugo fürchtet um sein Leben. Über seine Geliebte Juliette Drouet äussert er sich folgendermassen: „Sie hat mir im Dezember 1851 das Leben gerettet. Sie hat für mich das Exil erlitten. Nie hat ihre Seele die meine verlassen. Mögen diejenigen, die mich geliebt haben, sie lieben. Mögen die, die mich geliebt haben, sie respektieren. Sie ist meine Witwe“.

Nach Juliette Drouet benannter Platz im 9. Arrondissement «Opéra» in Paris.

Juliette Drouet stirbt 1883, Victor Hugo 1885. Sie ist im Cimetière Nord de Saint-Mandé im Pariser Vorort Vincennes beigesetzt. Vicot Hugo ruht als Unsterblicher im Pantheon in Paris.

Das Hauteville House blieb nach dem Tod Hugos im Familienbesitz und wurde später dem Staat verkauft. Heute ist dort das französische Honorarkonsulat auf Guernsey sowie ein kleines Victor Hugo-Museum untergebracht.

Tafel am Hauteville House mit Hinweis auf den Aufenthalt von Juliette Drouet. Quelle: commons.wikimedia.


Folge 2: Zwei Briefe in den Schweizer Jura

Die Social Philately beschränkt sich nicht auf das Sammeln von Briefmarken und Belegen. Sie interessiert sich für die Geschichte hinter den Belegen. Heute mit zwei Belegen, die in das abgelegene Boncourt im schweizerischen Jura gelangten.

Die Burrus-Korrespondenz

Philatelistisch lässt sich dieser erste Brief folgendermassen beschreiben.

Der Brief wurde 1864 von Hanau, Kurfürstentum Hessen, nach Boncourt im heutigen Kanton Jura in der Schweiz versandt.

Frankatur: 5 Silbergroschen der 2. Ausgabe Thurn und Taxis für den nördlichen Postbezirk (1859-1862). Aufgabestempel „Hanau, 1.9.“; nach Stempelhandbuch Haferkamp/Probst handelt es sich um den von 1859-1866 verwendeten Stempel Typ 7. Die Briefmarke ist entwertet mit dem Hanau zugeordneten Nummernstempel „29“. Der Brief trägt den handschriftlichen Vermerk „6 wF“, womit der der Schweizer Post auszuweisende Anteil von 6 Kreuzer (= 2 Sgr.) ausgewiesen ist.

Rückseitig sind die Durchgangsstempel „Frankfurt, 1. Sept.“ (Stempel-Typ 8), „Basel, 2. Sept. 64“, Porrentruy, 3. Sept. 64“ und der Ankunftsstempel „Boncourt, 4. Sept. 1864“ angebracht.  

Das Porto von 5 Silbergroschen setzt sich zusammen aus einem Portoanteil von 3 Sgr. Porto im Deutsch-Österreichischen Postverein für eine Grenzentfernung von über 20 Meilen und 2 Sgr. Schweizerisches Porto für einen Brief in den 2. Schweizerischen Rayon.

Der Brief ist von Sem geprüft worden. Im Attest wird festgehalten: „Überdurchschnittlich breit gerandete Marke auf sauberem Brief“.

Philatelistisch lässt sich dieser zweite Brief folgendermassen beschreiben.

Der Brief wurde 1867 von Bremen nach Boncourt versandt.

Frankatur: 5 Silbergroschen der 2. Ausgabe Thurn und Taxis für den nördlichen Postbezirk (1859-1862). Aufgabestempel „Bremen, 4.3.“; nach Stempelhandbuch Haferkamp/Probst handelt es sich um den von 1864-1867 verwendeten Stempel Typ. 10. Die Briefmarke ist entwertet mit dem Bremen zugeordneten Nummernstempel „301“ (Typ 1).

Rückseitig ist aufgrund der erfolgten Beförderung per Bahnpost der Stempel „Basel-Olten, Z5 III 6.“, „Bienne, 6 Mars 67“, „Porrentruy, 7. Mars 67“ und der Ankunftsstempel „Boncourt, 7 Mars 67“ angebracht.  

Für die Portobestimmung kann auf die Ausführungen zum ersten Brief verwiesen werden.

Sozialgeschichtliche Erkenntnisse

Der Brief ist an François-Joseph Burrus adressiert, der von 1805 bis 1879 lebte und der Sohn von Martin Burrus war (1775-1830). Die Familie Burrus stammt aus dem elsässischen Dambach-la-Ville. 1814 zog Martin Burrus, der in Dambach als Weinbauer tätig war, nach Boncourt in der Ajoie. Ab 1271 gehörte die Ajoie zum Fürstbistum Basel, zwischen 1793 und 1815 zu Frankreich. Auf dem Wiener Kongress von 1815 wurde die Ajoie dem Kanton Bern zugeschlagen und wurde somit schweizerisch. Martin Burrus zog demzufolge 1814 in das damals zu Frankreich gehörende Boncourt.

Im selben Jahr begann Martin Burrus in Boncourt Tabakwaren herzustellen. Draus entwickelte sich die Tabakfabrik Burrus. Um 1850 firmiert das Unternehmen unter dem Namen F.-J. Burrus und entwickelt sich zu einer Fabrik zur Herstellung von Zigaretten. 1855 wird mit der maschinellen Zigarettenproduktion begonnen, 1882 wird der Name rechtlich geschützt. 1883 wird der Firmensitz nach Sainte-Croix-aux-Mines im Elsass verlegt; Boncourt bleibt als Produktionsstätte erhalten. Für eine ganze Raucherwaren lässt Burrus den Namen schützen, so etwa Maryland, Trois Mousquetaire, Leichte Holländische Sigarren, Rio Grande und viele andere mehr. 1996 wird die Firma an die holländische Rothman’s International verkauft, die später an die British American Tobacco Switzerland (BAT) ging. Ende 2022 wurde die Zigarettenherstellung in Boncourt beendet.

Rechnung der Burrus-Fabriken in Boncourt und St. Croix-aux-Mines vom 30. März 1898.

Burrus ist in der Philatelie kein unbekannter Name: Am 20. Januar 1939 wird Maurice Burrus zusammen mit François-Joseph-Léon Burrus und André Burrus als unbeschränkt haftende Eigentümer der Kollektivgesellschaft F.J. Burrus & Cie. im Handelsregister eingetragen.

Maurice Burrus (1882-1958)

Maurice Burrus wurde 1882 in Sainte-Croix-aux-Mines geboren und trat später in die elterliche Firma ein. Bekannt geworden ist er als einer der grossen Philatelisten. Er legte eine Generalsammlung an. In den 1920er-Jahren kaufte er grosse Teile der Ferrari-Sammlung, 1934 Teile der Hind-Sammlung, darunter den einmaligen Bordeaux-Brief aus Mauritius. 1968 wurde er auf einer Briefmarke des Fürstentums Liechtenstein abgebildet.

Aus der Burrus-Sammmlung: Mauritius blau und rot auf dem Bordeaux-Brief – 1993 bei Feldmann für 6,125 Mio. Franken versteigert.

Der erste Burrus-Brief aus dem Jahre 1864 wurde von Conrad Deines jun. Abgeschickt, der in Hanau als Kaufmann tätig war und den Titel «Kommerzienrat» verliehen erhielt. Der Brief beinhaltet eine Rechnung.

Der zweite Brief aus dem Jahr 1867 wurde vom Handelshaus J.H. Kunoth und Lodtmann in Bremen aufgegeben und betrifft einen Wechsel von preussischen Thalern in Schweizer Franken.

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