Artikel von Dr. Hans-Ulrich Stauffer, SPhV Basel
1870: Frankreich und Preussen ringen um die Vorherrschaft in Europa. Der deutsch-französische Krieg entzündet sich an der Frage der Thronfolge in Spanien. Mehrere kleinere Provokationen führen letztlich zum Ausbruch des offenen Krieges zwischen Frankreich und Preussen und mit den mit ihm verbündeten deutschen Staaten. Frankreich wird diesen Krieg und damit das Elsass und Lothringen verlieren – eine Schmach, die erst mit dem Ausgang des 1. Weltkriegs 1918 getilgt wird.
Am 19. Juli 1870 erklärt Frankreich Preussen den Krieg, ist aber militärisch schlecht vorbereitet und diplomatisch isoliert. Innert kurzer Zeit werden Strassburg und Nancy verloren. Metz wird belagert. Der französische Kaiser Napoléon III. – er wuchs auf Schloss Arenenberg im Thurgau auf – wird am 1. September 1870 in der Schlacht von Sedan gefangen genommen und erklärt am Tag darauf die Kapitulation Frankreichs.
In der Folge revoltiert die Bevölkerung von Paris, das zu jenem Zeitpunkt bereits von deutschen Truppen belagert ist. Am 4. September 1870 wird in Paris von Léon Gambetta die Dritte Republik ausgerufen. Die Regierung von Kaiser Napoléon III. wird abgesetzt und eine Regierung der Nationalen Verteidigung eingesetzt. Die neue Regierung ist zu keinerlei Zugeständnissen an Preussen bereit. Sie veröffentlicht am 4. September 1870 den Aufruf an das französische Volk, im nationalen Widerstand weiterhin das Land zu verteidigen.
Im belagerten Paris verschlechtert sich die Versorgungslage und es werden erstmals Nahrungsmittelkarten herausgegeben. Auch wenn die Vororte Paris mit Lebensmittel versorgen, nehmen die Lebensmittelvorräte ab. Heizmaterial wird rar. Im Winter erfrieren täglich Menschen. Auf dem Markt von Saint-Germain-des-prés werden Hunde, Katzen und Ratten mit Goldfranken bezahlt. Im Januar 1871 wird die Lage dramatisch. Militärisch kann das belagerte Paris nichts mehr ausrichten. Die Stadt ergibt sich.
In der Pariser Bevölkerung gärt es. Der verhandelte Waffenstillstand wird kritisiert. Die Niederlage und die elende Lage der Bevölkerung führen zu Aufständen und schliesslich zur Ausrufung der Pariser Kommune, der ersten konkreten Umsetzung sozialistischer und anarchistischer Theorien – ein weiteres spannendes Kapitel in der französischen Geschichte. Im Mai 1871 wird die Kommune von der regierungstreuen französischen Armee blutig niedergeschlagen. Hunderte von Aufständischen werden füsiliert.
Postbeförderung mit Freiluftballonen
Ab dem 19. September 1870 ist Paris vollständig von deutschen Truppen eingeschlossen. Um den Verkehr mit der Aussenwelt aufrecht zu erhalten, wird zwischen dem 23. September 1870 und dem 28. Januar 1871 abgehende Post mit insgesamt 67 Ballonflügen ausgeflogen.
Unmittelbar nach der Belagerung von Paris durch die preussische Armee richtet am 8. September 1870 die «Compagnie des aérostatiers militaires», der Claude-Jules Durouf, der Fotograf Nadar und Camille Legrand «Dartois» angehören, auf dem Montmartre eine Basis für Ballone ein. Die beiden Ballone «Neptun» und «Général Trochu», die anfänglich für Beobachtungs- und Erkundungsflüge verwendet worden sind, sollen nun zum Transport von Personen aus dem besetzten Paris verwendet werden. Am 23. September 1870 überfliegt ein erster Ballon den Belagerungsring. Da in Paris nur wenige Ballone vorhanden sind, werden zwei Ateliers eingerichtet, die Ballone herstellen, das eine im Gare du Nord, das andere im Gare d’Orléans, in denen aufgrund der Blockade kein Zugverkehr mehr stattfindet.
Die französische Regierung, die nach Tours geflohen ist, legt fest, dass die aus Paris per Ballon ausgeflogene Post durch das dem Landeort nächste Postbüro abgefertigt werden soll. Bis zum 28. Januar 1871, dem Tag des Waffenstillstandes und der Kapitulation, steigen insgesamt 67 Ballone auf. Die Startplätze sind Montmartre, la Villette, der Gare de l’Est, der Gare du Nord, der Gare d’Orléans und die Tuillerien. Von der Postverwaltung werden nur 56 Ballonen Postsäcke mitgegeben, aber alle Ballone transportieren Post, denn vielfach wird den Piloten direkt Post zum Transport mitgegeben.
Die Verordnungen für die Ballonpost
Am 27. September 1870 erlässt das Finanzministerium zwei Verordnungen für die Postbeförderung mit Ballonen, die eine für den Versand von Briefen, die andere für den Versand von Karten (Fn i).
Der Versand von Briefen und Karten wird für Frankreich, Algerien und das Ausland zugelassen. Briefe dürfen nicht mehr als 4 Gramm wiegen, Karten nicht mehr als 3 Gramm. Sie müssen mit «par ballon monté» beschriftet sein. Das Briefporto wird für eine Zustellung in Frankreich mit 20 Centimes festgelegt, für Karten mit 10 Centimes. Für Sendungen ins Ausland sind die normalen Tarife anwendbar. Die Frankatur mit Briefmarken ist obligatorisch. Karten müssen die Masse von 7 x 11 Zentimeter haben und aus Karton sein. Eine Seite ist für die Empfängeradresse bestimmt, die andere für die Mitteilung. Für den Fall, dass nicht alle Post transportiert werden kann, haben leichtere Briefe den Vorrang.
Der Flug des Ballons Nr. 4 «Le Céleste»
Der 5. Ballonflug aus dem besetzten Paris findet am Freitag, 30. September 1870, statt, dem 12. Tag der Belagerung von Paris. Ballonpilot ist Gaston Tissadier (1843-1899), der bereits früher verschiedene Ballone pilotiert hat. Der Ballon hat ein Volumen von 700m3. Er steigt um 9.30 Uhr in der Gasfabrik von Vaugirard auf und geht um 11.30 Uhr in Dreux (Departement Eure et Loire) nieder. In einer Flugzeit von 2 Stunden 20 Minuten legt der Ballon eine Flugdistanz von 81 km zurück. Befördert werden 80 Kg. Post, 3 Brieftauben und 10’000 «Proklamationen an die Deutschen», die vom Piloten Tissadier beim Überfliegen der feindlichen Stellungen abgeworfen werden und in der zur Niederlegung der Waffen aufgerufen wird.
Das Spezielle an diesem Flug ist, dass der Pilot Gaston Tissadier einen spannenden Bericht über den Flug verfasst. Damit ist der Flug – im Unterschied zu den meisten anderen Flügen – gut dokumentiert.
Ein kleiner Auszug aus seinem Bericht (Fn ii):
Bald erscheint am Horizont eine kleine Stadt. Es ist Dreux mit seinem grossen, eckigen Turm. Der Céleste sinkt, ich lasse ihn in Bodennähe kommen. Eine grosse Menge Leute rennt herbei. Ich beuge mich aus der Gondel und rufe mit aller Kraft: „Hat es hier Preussen?“. Tausend Stimmen antworten gleichzeitig: „Nein, nein, landen Sie!“. (…)
Ah! welche Freunde geniesse ich, all die Hände dieser tapferen Leute zu drücken, die mich umkreisen. Sie bedrängen mich mit Fragen. Wie geht es Paris? Was denkt man in Paris? Wird Paris Widerstand leisten? Ich antworte so gut ich kann auf diese Tausend Fragen. Ich halte eine kleine Rede, die einen gewissen Enthusiasmus hervorruft. Ja, Paris bietet dem Feind die Stirne. In der tapferen Bevölkerung findet man keine Entmutigung oder Schwäche, vielmehr sieht man Hartnäckigkeit und Beherztheit. Wenn die Provinz die Hauptstadt nachahmt, ja dann ist Frankreich gerettet!
Ich leere geschwind den Céleste, während ein paar herbei geeilte Nationalgardisten die Bevölkerung zurückhalten. Ein Wagen kommt und holt mich mit meinen Säcken, meinen Depeschen und den Brieftauben.
Beim Aussteigen auf dem Dorfplatz laden mich mehr als fünfzig Personen zum Mittagessen ein, aber ich habe bereits die grosszügige Einladung des Wagenbesitzers angenommen, der mich abholen kam. Mein Gastgeber hat zufälligerweise meinen Namen auf meinem Gepäckkoffer gelesen und hat mich als Nachbarn seines Geschäftspartners in der Rue Bleue erkannt.
Froh und mit Appetit esse ich, dann lasse ich mich mit meinen Säcken voller Briefe aus Paris zum Postbüro fahren. Ich lege sie auf den Boden und komme nicht darum herum, sie mit Emotionen zu betrachten. Meine Augen blicken auf dreissigtausend Briefe aus Paris. Dreissigtausend Familien werden an den Ballon denken, der ihnen über die Wolken eine Nachricht der Belagerten gebracht hat!
Wie viele Freudentränen sind in diesen Postsäcken enthalten! Wie viele Erzählungen, Geschichten, ja vielleicht auch Dramen sind in dicken Postsäcken verborgen?
Der Postvorsteher erscheint und scheint überrascht von der Arbeit, die ich im bringe. Ich sehe seinen Gehilfen, der mit grossen Augen daran denkt, dass er dreissigtausend Briefe abfertigen wird. Noch nie hat es in Dreux ein ähnliches Fest gegeben! Man werde einen weiteren Gehilfen herbeirufen, aber die Angelegenheit werde rasch erledigt sein, versichert mir der Vorsteher…
Was soll ich jetzt machen? Die Brieftauben fliegen lassen, damit meine Freunde wissen, dass ich noch lebe und dass die Depeschen an sicherem Ort sind. Ich eile zur Souspräfektur, wohin ich meine geflügelten Boten bringen liess. Man hat ihnen Getreide und Wasser gegeben, sie schlagen mit den Flügeln in ihrem Käfig. Ich greife nach einer, die sich ohne weiteres nehmen lässt. An einer Schwanzfeder befestige ich meine kleine, auf dünnem Papier geschriebene Nachricht und lasse sie frei. Sie setzt sich zu meinen Füssen auf den sandigen Strassenboden nieder. Ich mache dasselbe mit der zweiten Taube, die neben ihre Gefährtin Platz nimmt. Wir beobachten sie aufmerksam. Einige Sekunden vergehen. Plötzlich schlagen beide Tauben mit den Flügeln und steigen in einem Zug hundert Meter hoch. Dort schweben sie, drehen sich in alle Richtungen des Horizontes und orientieren sich. Ihre Schnäbel glänzen wie eine Kompassnadel auf der Suche nach dem mysteriösen Pol. Schon bald finden sie ihre Richtung, sie fliegen wie Pfeile geradeaus in Richtung Paris!
Ausland-Postkarte nach Yverdon (Schweiz)
Stempel «Paris, Senat, 29. Sept. (18)70»; roter Zusatzstempel «PD» (Port à Destination).
Rückseitig Transitstempel «Lausanne, 6. Oct. Matin”.
Auslandporto 30 C.; Frankatur: Empire dentelés; 10 und 20 C. Napoléon lauré (1862/70; 10 C.: 1867; 20 C. 1867).
Kartentext
Paris, jeudi 29 sept. 1870
Tout va bien, mais nous sommes sans nouvelle de nos absents. L’ennemi n’a pas encore attaqué.
Paris est calme et plain de confiance. Cette lettre partira par ballon libre sans aeronauté.
R. Holland
(Alles ist gut, aber wir haben keine Nachrichten von unseren Abwesenden erhalten. Der Feind hat noch nicht angegriffen. Paris ist ruhig und voller Zuversicht. Dieser Brief wird im Freiluftballon befördert werden.)
Der Flug des Ballons Nr. 57 «Duquesne»
Der 57. Ballonflug aus dem besetzten Paris findet am Montag, 9. Januar 1871, statt, dem 113. Tag der Belagerung von Paris. Ballonpilot ist Richard Charles. Der Ballon hat ein Volumen von 2045m3. Er steigt nachts um 3.50 Uhr vom Gare d’Orléans auf und geht um 11.00 Uhr in Berzieux (Departement Marne) nieder. In einer Flugzeit von 7 Stunden 10 Minuten legt der Ballon eine Flugdistanz von 167 km zurück. Befördert werden 100 kg Post und 4 Brieftauben.
Auslandbrief nach Vevey (Schweiz)
Stempel «Paris, Rue Taitbout, 4. Jan. (18)71»; roter Zusatzstempel «PD» (Port à Destination).
Rückseitig Transitstempel «Genève, 19.1.71» und Ankunftstempel «Vevey, 20.1.(18)71».
Auslandporto 30 C.; Frankatur: Empire dentelés; 30 C. Napoléon lauré (1862/70).
Auszüge aus dem Brief
Louise Guex arbeitet – wie sich aus dem Briefinhalt ergibt – in einem Spital. Am 3. Januar 1871 schreibt sie an ihre Mutter in Vevey.
«Was uns am meisten bedrückt ist die Ungewissheit über den Ausgang. Das Ende scheint nicht nah, wir können noch ein oder zwei Monate ausharren, wenn uns nicht der Hunger zur Kapitulation zwingt…
Man spricht davon, dass die (französischen) Truppen Fortschritte machen, aber wir sind schon so oft getäuscht worden und glauben nichts mehr ohne offizielle Verlautbarung, da auch die Regierung seit dem 14. Dezember keine Nachricht von aussen mehr hat. Seit zwanzig Tagen weiss Paris nicht mehr, was ausserhalb seiner Mauern passiert, wo es doch am Abend jeweils wusste, was am Morgen irgendwo in Europa geschehen war. Das ist eine unglaubliche Situation, wenn man nicht selbst dabei ist…
Der Feind hat angekündigt, den Stadtteil St. Denis in Dreiviertel-Stunden zu bombardieren. Wir mussten ein Spital mit 300 Verletzten und Kranken evakuieren. Gestern wurde unser Stadtteil bombardiert…»
Eine bemerkenswerte Leistung
Während der Belagerung von Paris steigen 67 Ballonen mit Post auf. Jeder trägt einen Namen: «L’Égalité» (Ballon 32), «La Bataille de Paris» (Nr. 36), «Gutenberg» (Nr. 44), «Bourbaki» (Nr. 63). Sie transportieren 164 Passagiere, 381 Brieftauben – diese werden jeweils nach der Landung freigelassen und kündigen im besetzten Paris den Ausgang der Mission an -, fünf Hunde und rund 2 Millionen Briefe und Karten. Der weiteste Flug des Ballons «La Ville d’Orléans» führt über 1246 km bis nach Lifjell in Norwegen, «Le Jacquart» geht in der Irischen See unter, «Le Richard Wallace» im Atlantik. Fünf Ballone fallen den preussischen Truppen in die Hände.
Belege der Ballons montés sind immer wieder auf Auktionen zu finden, kein Wunder bei rund 2 Millionen transportierter Briefe und Karten. Da die Geschichte der Ballons montés auch gut dokumentiert ist, eröffnen sich nebst der philatelistischen Spurensuche interessante Einblicke in eine Epoche europäischer Geschichte.
Quellen
[i] Quelle: http://www.coppoweb.com/ballons/fr.ballons1.php [17.2.2021].
[ii] Quelle: http://www.coppoweb.com/ballons/fr.ball_lst.php?idnb=5 [17.2.2021]. Der packende Bericht über den Flug kann auf Deutsch beim Verfasser dieses Artikels per Mail angefordert werden: hu.stauffer@bluewin.ch.
Hinweis
Dieser Artikel erschien erstmals in der SBZ 5-6/2021